Hinter den Kulissen der grauen Kachel
von Lukas Lenz
Unten ohne und Vokuhila wegen Corona steht den allerwenigsten. Und genau deshalb bleibt in der heutigen Online-Vorlesung die Kamera aus. Was sich wohl sonst noch so hinter einer ausgeschalteten Kamera im digitalen Hörsaal abspielt?

Gestapeltes Geschirr aus prähistorischen Semestern. Illustration: Antonia Koschny
„It´s just another day for you and me in paradise“, schreit mir Phil Collins ins Ohr. Eigentlich schreit Phil Collins nicht. Aber damit ich heute nicht schon wieder die Online-Vorlesung vom Professor Astbard verschlafe, habe ich den Wecker auf voller Lautstärke direkt in meine Ohrmuschel gestellt.
Mit einer raschen Drehung hole ich Schwung, kicke den Wecker vom Nachttisch und ziehe damit Phil Collins endgültig den Stecker. Ruhe. Langsam werde ich wach und öffne meine Augen. Ich werfe nickend einen Blick durch den Raum und stelle fest, dass das „Paradise“ heute besonders unaufgeräumt ist. Links die Küche, auf der sich Türme von dreckigem Geschirr bis unter die Decke winden. „Das wollte ich doch letztes Semester eigentlich schon wegspülen“, denke ich kurz. Dann verschiebe ich diesen Gedanken wieder getrost auf morgen.
Rechts steht der einzige Stuhl in meinem Zimmer. Den Klamottenstuhl. Jeden Morgen räume ich die Klamotten von dem Stuhl auf mein Bett, weil ich davon ausgehe, dass mein zukünftiges Ich den Haufen wohl wegräumen wird, bevor es sich schlafen legt. Wie naiv. Süß. Das geht seit zwei Semestern so.
Ich stehe auf. „Woher kommen diese Kopfschmerzen?“ Unkontrolliert und lautstark löst sich plötzlich ein Bäuerchen der Verdammnis. Ein Bukett aus Bier mit einer Brise Magensäure weht an meinem Gaumen vorbei. „Das war die letzte Nacht noch“, gestehe ich mir ein. Völlig zerknittert begebe ich mich an meinen Schreibtischstuhl, schmeiße die Klamotten aufs Bett und schalte den Computer ein.
Die Vorlesung läuft bereits seit fünf Minuten. Leider hat der Professor noch nicht gecheckt, dass sein Mikrofon aus ist. Munter präsentiert er seinen Bildschirm. Der Chat an der Seite droht zu überfluten vor lauter „Wir können Sie nicht hören“-Nachrichten. Doch der Professor hat nur Augen für seinen Stoff.
Irgendwie beruhigt es mich, dass ich nicht der Einzige bin, der mit der Gesamtsituation überfordert ist. Ich nippe an meinem Kaffee, von dem ich glaube, dass er wirklich etwas Feines sei. Irgendwo habe ich mal gehört, dass Koffein erst nach 30 Minuten anfängt zu wirken. Gespannt erwarte ich diesen Zeitpunkt, während ich dem Professor dabei zusehe, wie er beängstigend nah an der Kamera, aber lautlos: „Können Sie mich jetzt hören?“, sagt. Auch er hat die gleichen Probleme wie gestern. Ich habe sozusagen mein Leben genauso im Griff wie ein Professor.
„So! Das soll es für heute gewesen sein, liebe Studentinnen, liebe Studenten, liebe grauen Kacheln. Bis morgen“, weckt mich der Professor aus meinem sechsstündigen, etwas verfrühten Mittagsschlaf. Er muss den technischen Hochschulservice angeheuert haben, damit der Ton doch noch funktionierte. „Schon wieder die ganzen Vorlesungen verschlafen, so ein Mist!“, denke ich und haue mit der Faust auf den Schreibtisch, sodass in der Küche die Schüsseln beben. Ich bekomme einen Schock, als auf einmal eine Nachricht auf dem Bildschirm erscheint: „Ihr Mikrofon“, lauten die ersten Wörter, „ist stummgeschaltet. Möchten Sie es einschalten?“ Ein Glück. Ich dachte erst, das Scheppern wäre einmal quer durch den digitalen Hörsaal gehallt. NEIN, nein, nein, drücke ich. Und dann nichts wie raus aus der Vorlesung. Meine Kamera, inklusive der improvisierten Halterung, verstaue ich sicherheitshalber hinter meinem Bildschirm. Niemand soll wissen, dass ich so lebe. Vokuhila wegen Corona und unten ohne steht den allerwenigsten.
Vor dem Bett erstmal noch einen Snack. Ich öffne eine Schranktür, um mir einen Teller zu nehmen. Fehlanzeige. Statt Tellern purzeln mir mindestens zweihundert Pfandflaschen entgegen. Dann gibt’s halt keinen Snack mehr. Und aufräumen würde jetzt auch zu weit führen. Morgen ist ja auch noch ein Tag. Ich lege mich ins Bett und bin fast schon stolz auf meine Effizienz. Ich meine, warum auch etwas anziehen, wenn man es am Ende des Tages eh wieder auszieht? Warum putzen, wenn es eh wieder dreckig wird? Warum essen, wenn man sowieso wieder hungrig wird? Warum leben, wenn … ach so!
Artikel vom 21.12.2021
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