R(h)ein in den Tod. Wie mein Vater kapitulieren musste und der Fluss gewann
von Catharina Brade
Über 530 Menschen ertranken 2016 in Deutschland, davon allein dreißig im Rhein. Für die meisten Opfer kommt jede Hilfe zu spät. Catharina Brade war im Sommer 2016 live bei einem Rettungsversuch dabei und erzählt.

Laut ADAC hebt alle fünf Minuten ein Hubschrauber zum Rettungseinsatz ab. In unserer Geschichte musste der Helikopter unverrichteter Dinge zurückkehren. Quelle: ADAC
Ohne in den blassblauen Himmel sehen zu müssen, weiß ich, dass er gleich da sein wird. Seit fast zwanzig Jahren erkenne ich die Rotorengeräusche der EC135, bevor irgendjemand anderes überhaupt weiß, dass sich ein Hubschrauber nähert. Normalerweise freue ich mich immer, aber heute ist es anders: Ein Mann ist verschwunden, vermutlich im Rhein. Obwohl noch niemand sicher sagen kann, dass der Mann sich im Wasser befand, wurden sofort die Feuerwehr, das Technische Hilfswerk, die Rettungsschwimmer des DLRG und auch ein ADAC-Hubschrauber angefordert. Das ist der Regelfall bei vermissten Personen am Rheinufer, denn der Rhein wird mit seinen gefährlichen Strömungen oft unterschätzt.
Zahlreiche Schaulustige versammeln sich am Ufer des Rheins gegenüber der Bonner Rheinaue, als sich der Hubschrauber nähert. Ich bin zufällig da, war gerade etwas essen und warte jetzt darauf, dass mein Vater gleich seine Arbeit macht. Denn ich weiß: Er fliegt heute. Normalerweise schaue ich ihm nur bei Übungen zu. Ich erinnere mich an eine Übung am Blausteinsee bei Aachen. Dass gerade Wasserrettungen die schwierigsten sind, ahnen die meisten Zuschauern wohl nicht.
Wasserrettungen sind äußerst schwierigMit gedrosseltem Tempo fliegt der knallgelbe Hubschrauber rheinabwärts, knapp fünfzig Meter über der Wasseroberfläche. Viel niedriger kann er nicht fliegen, da das Wasser durch die Rotordrehung sonst aufgewirbelt und die Sicht verhindern würde, weiß Pilot Stephan Brade. Er hofft, dass er den Vermissten nun schnell findet.
Wenn nach Personen in Flüssen und Seen gesucht wird, bekommt der ADAC-Hubschrauber von der Feuerwehr meistens ein spezielles Suchgerät, das warme Körper im kalten Wasser des Rheins leichter identifizierbar macht. Ansonsten bleibt dem Piloten und dem Rettungsassistenten nur ein scharfes Auge, so wie auch in diesem Fall. Immer wieder fliegt der Hubschrauber den Rhein von der Stelle ab, wo der Mann vermutlich ins Wasser ging. Und immer wieder berechnet das Rettungsteam anhand der Strömung des Flusses, wo der Körper des Mannes jetzt sein könnte. Sie fliegen und suchen. Hin und zurück. Wieder und wieder. Erfolglos. Das THW setzt nun Taucher für die Suche ein. Der Mann ist vermutlich bereits tot und wird vom Rhein Richtung Meer zu seiner letzten Ruhestätte getragen.
Ich sehe dem Hubschrauber nach, als er wieder Richtung Station fliegt und denke an meinen Vater. Seine Arbeit ist jetzt getan. Noch nie war ich so nah live dabei. Ich habe Gänsehaut.
Leichtsinn kann tödlich endenDer Rhein ist gefährlich – jeder weiß es und dennoch passiert es immer wieder. 2016 waren es laut Achim Wiese von der DLRG dreißig Tote. Der vermisste Mann gehört dazu. Dass ausgerechnet ein Erwachsener im Rhein ertrinkt, ist leider nichts Neues: Oft sind sie es, zum Beispiel ausgebildete Schwimmer, die die Gefahren des Rheins auf die leichte Schulter nehmen und das Risiko der Strömung unterschätzen. Denn der große, friedliche „Vater Rhein“ verbirgt seine Gefahren gekonnt. Vom Ufer aus wirkt die Strömung eher träge, die unter Wasser liegenden Strömungen scheinen nicht vorhanden. Doch bereits am Flussrand fließt der Rhein mit bis zu zwölf Kilometer pro Stunde, in der Mitte – der Fahrrinne für die Schiffe – noch weitaus schneller.
Ich blicke auf die Fahrrinne und ertappe mich dabei, wie ich automatisch nach einem Körper im Wasser suche. Sollte der Mann tatsächlich im Rhein gewesen sein, wäre er allerdings längst abgetrieben. Die Taucher müssen sich beeilen – auch, weil die Sonne bereits untergeht.
Besonders häufig passieren Badeunfälle im Sommer, wenn der Rhein Niedrigwasser hat und zahllose Menschen die weitläufigen zu Fuß erreichbaren Steinstrände erkunden wollen. Hierbei lassen sich viele vom flachen Wasser am Rand des Ufers täuschen und unterschätzen somit die Strömung. Schiffe, Brückenpfeiler und Landestellen verändern diese zusätzlich, sodass auch geübte Schwimmer oft keine Chance mehr haben. „Die vorbeifahrenden Schiffe entwickeln im Wasser eine starke Sogwirkung, die den Badenden die Beine förmlich wegzieht“, so DLRG-Sprecher Achim Wiese. „Zwischen den Steinbuhnen am Rhein, wie man sie beispielsweise aus Königswinter kennt, können sich dann Strudel und Unterströmungen bilden, die jeden nach unten ziehen können.“
Strudel bilden starken SogSolche Strudel können Schwimmer bis zu fünf Meter in die Tiefe ziehen. Befindet man sich einmal in einem Strudel, rät die DLRG, nicht gegen den Sog des Strudels anzukämpfen, sondern mit aller Kraft Richtung Boden zu tauchen und den Strudel so gewissermaßen zu untertauchen, da am Grund die Sogwirkung am schwächsten ist. Das liegt an der Fließgeschwindigkeit des Wassers im Fluss, bei der die Geschwindigkeit des Wassers Richtung Grund tendenziell abnimmt. Die Entstehung der Strudel hat physikalische Ursachen: Ein Strudel entsteht dann, wenn das schneller fließende Wasser im Rhein auf die künstlichen Steinbuhnen am Rheinufer trifft, zwischen denen die Fließgeschwindigkeit des Wassers weitaus geringer ist. Dort gräbt sich das Wasser dann in den Flussboden und wird dabei in Rotation versetzt. Meist ist dies von der Oberfläche aus kaum erkennbar, da die Strudel sich erst Unterwasser zu ihrer vollen Größe entfalten.
Aber nicht nur Niedrigwasser führt dazu, dass viele den Rhein unterschätzen. Häufig sind es die wenigen Minuten „Ebbe“ im Rhein, die durch stromaufwärtsfahrende Schiffe verursacht wird: Diese saugen das Wasser vor ihnen an, sodass der Pegel am Uferbereich sinkt. Ist das Schiff vorbeigefahren, kehrt die „Flut“ mit unerwarteter Kraft zurück und reißt auch Erwachsene in die Hauptströmung. Laut DLRG sterben pro Sommer allein in NRW fünf bis sechs Menschen im Rhein. 2003 waren es sogar 18. „Wegen der Hitze war der Wasserstand sehr niedrig“, so Achim Wiese. „Das führte dazu, dass die Leute sehr weit in den Fluss gegangen sind.“
Rettungsversuche oft erfolglosWährend sich nun auf der gegenüberliegenden Rheinseite das THW, die Feuerwehr, die DLRG und mittlerweile auch die Polizei berät und die ersten Taucher ins Wasser gehen, stehe ich am anderen Ufer und blicke rheinabwärts. Ich habe wenig Hoffnung, dass dieser Mann noch gerettet werden kann, auch wenn die Suche in vollem Gange ist. Allein der Einsatzleiter entscheidet, wann der Einsatz beendet ist. Und der will noch nicht aufgeben.
Pro Jahr wird die Feuerwehr in Bonn und Köln zusammen mit der DLRG zu etwa fünfzig Einsätzen auf dem Rhein gerufen. „Für die Feuerwehr ist es extrem schwierig, jemanden zu retten, sobald er einmal im Fluss treibt“, sagt Oberfeuerwehrmann Tobias Suhre von der Freiwilligen Feuerwehr Oberkassel. „Wir versuchen zwar, innerhalb von acht Minuten vor Ort zu sein, aber wir können dennoch nur einen geringen Teil der Verunglückten retten.“ Aufgrund der vielen Opfer des Rheins herrscht allein in Köln auf einer Länge von etwa zwanzig Kilometern ein Badeverbot. In Bonn sieht es ähnlich aus.
Dass dieses Verbot ernst zu nehmen ist, habe ich an jenem Tag vor anderthalb Jahren selbst erlebt. Mein Vater ist bis zum heutigen Tag fast zehn weitere Male losgeflogen, um vermisste Menschen im braun-trüben Wasser des Rheins zu suchen. Gerettet hat er seit dem einen Menschen. Und doch wird es vermutlich auch in diesem Sommer wieder einige Leichtsinnige geben, die im Rhein schwimmen wollen und dabei ihr Leben riskieren.
Als es zu dunkel ist, beendet die Rettungseinheit die Suche nach dem vermissten Mann, der später von der Polizei für tot erklärt wird. Bis heute wurde seine Leiche nie gefunden.
Weiterführender Link:Geschichte der ADAC-Luftrettung
Artikel vom 15.09.2017
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