Von Karin Merker
Jetzt ist es soweit. Ich schließe die Türe an der Hintertreppe auf und wieder zu. Kein Laut ist zu hören, denn ich habe sie vorher geölt. Ich habe an alles gedacht. Lautlos husche ich durch den langen Flur, hinunter zu den Ateliers. Ich habe Fensterleder über die Turnschuhe gebunden, damit sie nicht quietschen. Ich habe an alles gedacht. Im Haus ist es dunkel, denn es sind Ferien. Nur aus dem Atelier, aus seinem Atelier scheint ein schmaler Streifen fahles Licht unter der Tür durch. Ich horche, ich klopfe – nichts. Vorsichtig drücke ich die Klinke hinunter und da liegt er schon! Schnell das Licht aus. Er sieht mich mit großen Augen an! Ja, schau mich nur an – jetzt unterhalten wir uns ein bisschen, solange Du noch kannst, Maître…
+++
Der Wecker klingelte, draußen rumpelte ein Lkw über die Bahngleise und das Handy drehte sich brummend um die eigene Achse. Unwillig drehte Marie sich um, doch der Lärm blieb. Sie griff nach dem Handy und stellte mit der anderen Hand den Wecker aus. „Ja, Färber?“ „Frau Färber, hier ist Marek, Hauptkommissar Marek, Ihr neuer Kollege. Sie brauchen nicht erst ins Präsidium zu kommen. Wir haben eine Leiche. Wo sind Sie, ich hole Sie ab.“ „Äh, ich...“ stottert Marie, immer noch nicht ganz wach. „Ich bin im Hotel am Bahnhof“. „Alles klar“ sagte Marek, „in einer Viertelstunde bin ich da“ und legte auf. „Eine Viertelstunde?“, keuchte Marie. Solange brauchte sie normalerweise, um überhaupt aus dem Bett zu kommen.
Während Marie Färber versuchte wach zu werden, fuhr Oberkommissar Marek vom Polizeipräsidium zum Hotel am Bahnhof. Der Weg war nicht weit, denn Gießen ist ja nicht sehr groß. Macht nichts, dachte er, ich lebe gerne hier, schon immer. Bin gespannt wie die Neue ist. So ein junges Ding und dann meine Vorgesetzte! Na Mädel, wir werden sehen. Ich habe schon so manchen Neuling überlebt…
Kurze Zeit später war Marek am Hotel angelangt. Da kam Marie auch schon raus. Er hupte ihr zu, und sie stieg ein. „Hauptkommissarin Marie Färber, Moin“, sagte Marie und lächelte ihren etwa fünfzig Jahre alten Kollegen verschlafen an. „Marek, Heinz Marek, herzlich willkommen in Gießen“. „Danke, was haben wir, Herr Marek?“ „Heinz, ich heiße Heinz, sonst kann ich nicht arbeiten.“ „Gut, kein Problem, Heinz, ich bin Marie“. „Na also, geht doch“, grinste Marek. „Also, Heinz, was haben wir?“ „Eine Leiche in der VHS“. „VHS?“ „Volkshochschule!“, antwortete Marek geduldig. „Oh, ja, natürlich“, entgegnete Marie zerknirscht, „bin noch nicht ganz wach!“ „Weiß man schon, wer der Tote ist?“ „Ob MAN das weiß, weiß ich nicht. Ich weiß es!“ Marie stöhnte innerlich auf. Das kann ja heiter werden! Ein echter Klugsch… „Also HEINZ. Wer ist es?“ „Maurice Metzinger, Maler und Kunstlehrer an der VHS, 56 Jahre, alleinstehend, keine Angehörigen, soweit bis jetzt bekannt. Da sind wir auch schon.“
Marie ging schnurstracks auf die aufgeregte Menge zu, die sich vor dem Haupteingang der VHS auf der Fröbelstraße angesammelt hatte. „Lassen Sie mich durch!“ „Halt, junge Frau, des is’ hier en Tatort!“ „Eben Kollege, und genau da will ich hin!“, sagte Marie gereizt zu dem Uniformierten, der sie von der Eingangstür wegdrängen wollte und zeigte ihren Ausweis vor. „Neu?“, fragte der Polizist knapp. Marie nickte. „Na, dann mal los“, sagte der Uniformierte jovial und hob das Absperrband. „Wo ist...?“ „Rechts, durch die Tür, den Gang hinunter und dann wieder rechts. Dann sehen Sie schon.“ „Danke“, entgegnete Marie und ging los. „Guten Tag, ich bin Hauptkommissarin Färber, ich leite die Ermittlungen. Wer hat den Toten gefunden?“, fragte Marie in die Runde. Eine kleine Frau im geblümten Kittel und Kopftuch hob zaghaft die Hand. „Isch.“ Weiter kam sie nicht, dann brach sie in lautes Wehklagen auf Türkisch aus. „Oh, Mann“, stöhnte Marie. Ihre Laune verschlechterte sich rasend schnell. „Ruhe!“, donnerte sie. „Ich übernehm’ die gute Frau“, hörte sie Marek hinter sich sagen. „Danke, Heinz.“ Dann beugte sie sich zu der Leiche runter, die halb im Atelier und halb im Flur lag. Marie konnte keinerlei Verletzungen und keine verdächtigen Gerüche erkennen. Es gab keine Tatwaffe und auch keine Einbruchsspuren. Allerdings lag der Mann irgendwie verdreht da. Aber sonst war nichts Auffälliges zu erkennen, gar nichts.
„Na toll, das fängt ja gut an. Wär’ ich bloß in Hamburg geblieben“, murmelte Marie vor sich hin. „Da haben die Leichen wohl ein Schild mit der Todesursache und der Adresse des Mörders um den Hals“, feixte Heinz. Marie zuckte zusammen und funkelte ihn wütend an. „Der kann in die Gerichtsmedizin. Ok, Heinz, lass uns zu seiner Wohnung fahren.“
+++
„Wo ist sie, Maître? Wo ist mein Mädchen?“ Der Mann wand sich auf dem Boden und krampfte heftig. „Wer sind Sie?“, stieß er mühsam hervor. „Du weißt nicht, wer ich bin? DU WEIßT NICHT, WER ICH BIN? Ich sag dir, wer ich bin, und dann will ich alles wissen – SOFORT!“ Der zuckende Mann starrte aus großen Augen in unbestimmte Richtung und begann stockend zu reden.
+++
„Was hat die Befragung der Putzfrau ergeben?“ „Tja, mein Türkisch ist ziemlich schlecht“, grinste Heinz. „Bist wohl ein Witzbold was?“, knurrte Marie. „Das Leben ist doch schon traurig genug“, antwortete Heinz vergnügt. „Ich höre!“, hob Marie ihre Stimme. „Also gut, die Frau heißt Fathma Erdogan, 38 Jahre, wohnhaft in Gießen. Sie hat um 7.00 Uhr angefangen zu arbeiten und um 7.49 Uhr die Leiche gefunden. Sie hat nichts angerührt und ist gleich zur Verwaltung gelaufen, um die Sache zu melden. Die haben dann sofort bei uns angerufen, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass das auch stimmt, was die gute Fathma da erzählt, denn sie ist für ihre blühende Fantasie bekannt. Das war’s im Groben und da sind wir. Willkommen auf der Gummiinsel!“ „Der was?“, fragte Marie gereizt. Frühes Aufstehen war einfach nicht ihr Ding: Sie hatte danach den ganzen Tag schlechte Laune, vor allem wenn sie noch nicht einmal Kaffee hatte trinken können.
„Ok, Heinz, wo auch immer wir sind, hast du den Schlüssel?“ „Klar doch“, schmunzelte der und schwenkte einen schweren Bund. Ihn schien ganz und gar nichts aus der Ruhe bringen zu können.
Die beiden Kommissare gingen durch den düsteren, muffigen Hausflur und bestiegen den völlig verwahrlosten Aufzug. „Schickes Ambiente, passend für einen Künstler“, stichelte Marie. Heinz brummte nur. Doch als sie die Wohnung betraten, blieben beide erstmal verblüfft stehen. Das hatten sie nicht erwartet: geschmackvolle Teppiche, edle Möbel und natürlich jede Menge Bilder, nicht nur von Metzinger. Marie entdeckte einen Monet. „Ob der echt ist?“ „Quatsch, woher soll ein VHS-Dozent so viel Geld haben?“ „Vielleicht ist er Fälscher?“, sagte Heinz abwesend und schaute sich eine Reihe Fotografien in teuren Silberrahmen an. „Wer diese Mädchen wohl sind? Töchter?“ „Der Chef von der VHS sagt, er hat keine Angehörigen. Sieh mal, da fehlt eins!“ „Tatsächlich“, sagte Heinz und besah sich den leichten staubfreien Umriss genauer. „Ok, das reicht fürs Erste. Laß uns die Nachbarn befragen.“
+++
Ich bin wütend, sehr wütend. Warum hast du das getan? WARUM?? Was hat sie dir getan? Sie war mein Leben! MEIN LEBEN!!! Hast du Durst? Ja, du musst großen Durst haben. Hier, ich hab dir was Feines mitgebracht, Maître. Der Mann trank gierig aus einer Thermosflasche. Du hast es verdient, du weißt das. Los, trink aus, ich will gehen. Nach wenigen Minuten hörte der Mann auf zu krampfen, und es war beinahe still. Nur ein ganz leises Geräusch war zu hören. Als ob jemand ein Lied summte…
+++
Drei Stunden später saßen Heinz und Marie in ihrem Büro im Präsidium und bissen genussvoll in ihre Brötchen. „Puh, das tut gut. Entschuldige Heinz, hektisches Aufstehen ohne Frühstück verursacht bei mir entsetzlich schlechte Laune“. „Mach dir keinen Kopf. Ich bin hart im Nehmen: dreißig Jahre Polizeidienst, zwanzig Jahre verheiratet, drei Töchter, eine etwa in deinem Alter“, lächelte er verschmitzt. „Ich bin 35!“, protestierte Marie vernehmlich und schüttelte dabei ihre kupferroten Locken. „Schon gut“, beruhigte Heinz.
„Also, was haben wir? Metzinger war alleinstehend, die Nachbarn beschreiben ihn als unauffällig, freundlich, zurückhaltend und hilfsbereit. Seine Kollegen sagen das Gleiche, und überdies hat er immer gute Beurteilungen von seinen Teilnehmern bekommen. Er gab drei Kurse pro Semester und dazu eine so genannte Sommerakademie, einen Malkurs in Südfrankreich. Ein wahrer Heiliger, der nur für seinen Beruf lebte.“ Heinz schmiss seinen Notizblock missbilligend auf den Schreibtisch. „Und jetzt?“, fragte er.
„Hmm, was ist mit den Fotos auf seiner Kommode? Alles junge Mädchen sagst du? Ich denke, er hatte keine Angehörigen? Ich fahr’ noch mal in die Wohnung, und du fragst noch mal die Kollegen.“ „Irgend etwas muss doch zu finden sein. Ein Heiliger, was? Bringt man Heilige um?“, brummte Marie. „Und ob“, grinste Heinz. „Ihr habt doch den Heiligen Bonifatius erschlagen“. „Blödmann!“, sagte Marie kopfschüttelnd und ging verstohlen lächelnd hinaus. „Wir sehen uns dann morgen früh – hoffentlich ohne Weckdienst durch eine Leiche“. „Geht klar Marie“, entgegnete Heinz und machte sich auf den Weg zur VHS.
+++
Mein Liebling, jetzt ist es getan! Ich hab es getan, für dich! Freust du dich? Gut, das ist gut. Ich komme jetzt zu dir, mein Schatz.
+++
Am nächsten Morgen kam Marie gut gelaunt ins Büro. Sie hatte gut geschlafen, war langsam erwacht und hatte gefrühstückt, also: optimale Bedingungen für einen guten Tag. „Moin“, begrüßte sie Heinz schwungvoll, „Na, was gibt’s Neues, Obduktionsbericht schon da, was sagt die Spusi?“ „Welche Frage soll ich zuerst beantworten?“, murmelte Heinz. „Oh, oh, da ist aber jemandem eine dicke Laus über die Leber gelaufen!“ „Nein, gar nicht.“
Mareks Handy klingelte „Was, wer? Ja, wir kümmern uns drum.“ „Was ist?“, fragte Marie. „Eine Mitarbeiterin der VHS ist nicht zur Arbeit gekommen. Eine Putzfrau namens Helga Schwarz“. „Bei denen ist ja wirklich der Wurm drin, was? Das muss erstmal warten. Vielleicht ist sie einfach nur krank.“
„Du hast recht. Sieh mal!“, erwiderte Heinz und warf ihr die Gießener Allgemeine rüber. „Angesehener Künstler ermordet!“ titelte die Zeitung. „Schau Dir das Foto an.“ „Das…“, murmelte Marie nachdem sie das Bild eine Weile betrachtet hatte. „Das muss das fehlende Foto von Metzingers Kommode sein. Aber wie kommt die Zeitung dazu?“ „Sie sagen, es wäre gestern an der Pforte abgegeben worden, aber niemand erinnert sich von wem. Es lag einfach irgendwann da.“ „Na toll, hast du mit der Zeitung gesprochen?“ „Nein, mit der Zeitung nicht, aber mit dem zuständigen Redakteur“. Marie funkelte ihren Kollegen an. „Und? Lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“
„Metzinger war vor Jahren in den Schlagzeilen. Während einer so genannten Sommerakademie verschwand eine der Teilnehmerinnen spurlos, Julia Sendlinger, 23 Jahre. Die französischen Behörden konnten keine Spur von ihr finden, nur ihr Gepäck war noch im Hotel. Es fand sich kein Hinweis auf ein Verbrechen, kein Abschiedsbrief aber auch keiner auf einen Verehrer oder so. Sie war einfach verschwunden. Alle waren erschüttert“. „Und?“, setzte Marie nach. „Was, und?“ „Na, da kommt doch noch was“. „Ertappt, Frau Hauptkommissarin“, schmunzelte Heinz. „Die Mutter. Sie hat damals…“ „Wann war das eigentlich?“, fragte Marie. „Vor zehn Jahren, genau auf den Tag!“ Marie pfiff durch die Zähne. „Wo wohnt sie?“ „Buseck“. „Wenn das wieder einer deiner Scherze ist!? „Nein, ist es nicht. Das ist ein kleiner Ort bei Gießen“. „Mhh“, brummte Marie, „dann mal los“.
+++
Ich komme mein Kind, bald bin ich bei dir, bald…
+++
Marie klingelte ungeduldig an der Haustür des heruntergekommenen Reihenhäuschens. „Wen suche Sie dann?“, fragte eine Nachbarin. „Frau Sendlinger“, antwortete Marie. „Sendlinger? Kenn ich net. Da wo Sie klingele, wohnt die Frau Schwarz, schon seit neun Jahren, aber die iss net da, die aweided.“ „Und wo?“, fragte Marie drängend. „Ei, die putzt in de Volkshochschul’.“ „Danke“, sagte Marie und drehte sich zu ihrem Kollegen. „Hast Du das gehört?“ „Ich bin ja nicht...“ „Ja Heinz, ich weiß, du bist zwar alt, aber weder taub noch blöd. Komm wir fahren ins Präsidium.“
Dort angekommen lagen der Obduktionsbericht, der Bericht der Spurensicherung und eine Telefonnotiz auf dem Tisch. „Die VHS“, sagte Heinz, wir sollen den Leiter anrufen. „Mach du das, ich übernehm’ freiwillig die Berichte“. „Einverstanden“, stimmte Heinz erleichtert zu.
Nachdem Marie aufmerksam gelesen hatte, sah sie nachdenklich aus dem Fenster. „Aconitum napellus!“ „Was?“, fragte Heinz ebenfalls abwesend. „Blauer Eisenhut“, entgegnete Marie, „allerdings in einer Konzentration, die nicht unbedingt zum Tode führt“. „Wie ist das möglich?“ „Laut Bericht der Spusi hat man auf allen Utensilien, die Metzinger angefasst hat, hohe Konzentrationen vom Blauen Eisenhut gefunden, offenbar zerkleinerte Wurzel und Blüten, mit denen die Pinsel und Farbtuben eingerieben waren. Der Eisenhut ist hoch giftig, besonders Wurzel und Samen, und kann in hoher Konzentration schon durch Hautkontakt zu Herzarythmien und Kreislauflähmungen führen. Außerdem fand man in der Thermoskanne Spuren von Nikotin!“ „Ja, ja“, schmunzelte Heinz, „Rauchen ist tödlich“. „Metzinger hat nicht geraucht, er hat es im Magen gehabt!“ „Was?“ „In der Thermosflasche fand man Reste von Matetee und eben Nikotin. Hier steht, dass offenbar Tabakreste in Wasser gelöst – ebenfalls hochgiftig – und dem Matetee beigegeben wurden, deshalb hat das Opfer nichts gemerkt, denn Matetee schmeckt ja auch ziemlich rauchig.“ „Na, da wollte wohl jemand ganz sicher gehen.“ „Ja, das ist ihm auch gelungen“. „Nun, ich würde sagen: ihr! Ich hab noch mal mit dem Leiter der VHS gesprochen. Er ist von den Kollegen der Verkehrspolizei informiert worden, dass eine seiner Mitarbeiterinnen einen Unfall auf dem Gießener Ring verursacht hat. Man hat einen Mitarbeiterausweis bei ihr gefunden. Es ist Helga Schwarz, die Putzfrau, die als vermisst gemeldet wurde. Sie ist einfach auf der Fahrbahn herumgewandert. Ein Wunder, dass sie nicht verletzt wurde. Ein Autofahrer ist ihr ausgewichen und in die Leitplanke gerauscht. Die Frau hat auf den Crash überhaupt nicht reagiert. Der Autofahrer verständigte die Kollegen und sie wurde ins Krankenhaus gebracht.“ „Wo ist sie?“, fragte Marie und griff ihre Tasche, „Uniklinik – Psychiatrie“, antwortete Heinz. „Worauf wartest Du?“
Kurz darauf standen Marie und Heinz im Stationszimmer und warteten auf den Arzt. Unbehaglich sahen die beiden sich um. „Guten Tag die Herrschaften“, hörten sie eine freundliche Stimme sagen. „Ich bin Dr. Hohnhausen, Oberarzt. Sie kommen wegen Frau Schwarz?“ „Ja genau. Färber, und das ist mein Kollege Marek“. „Was können Sie uns sagen?“ „Nun, die Frau hat eine akut wahnhafte Störung. Sie sagt, sie habe es endlich getan, weil es getan werden musste. Außerdem erwähnt sie häufig den Namen Julia und Grasse“. „Gras?“, fragte Marie nach. „Nein, ich würde eher sagen Grasse, der berühmte Ort in der Provence, Sie wissen schon, Parfüm.“ „Oh ja, natürlich“, entgegnete Marie räuspernd. „Können wir mit ihr sprechen? Es ist wichtig.“ „Nein, ganz und gar unmöglich, wir müssen sie erst mal stabilisieren.“ „Kommen sie in ein paar Tagen wieder. Schönen Tag noch!“, sagte Dr. Hohnhausen und ging fröhlich pfeifend davon. „Na, der hat Nerven“, schnaubte Marie. „Muss er auch, bei dem Job!“, grinste Heinz. „Laß uns noch mal zur VHS fahren!“
Sie saßen in dem etwas altmodisch eingerichteten Zimmer von Dr. Weyer. „Ja“, sagte der gerade „die Frau Schwarz ist noch nicht lange bei uns, etwa ein Jahr. Sie war immer zuverlässig und pünktlich. Es war heute das erste Mal, dass sie gefehlt hat. Schlüssel? Natürlich hatte sie Schlüssel, wenn sie anfängt zu arbeiten, ist ja sonst noch niemand hier.“ „Was machte sie denn für einen Eindruck?“ „Tja, sie ist ein verschlossener Mensch, ein bisschen seltsam manchmal, aber sind wir das nicht alle irgendwie?“, lächelte Dr. Weyer verbindlich. Maries Handy klingelte. „Danke Dr. Weyer, wir müssen gehen.“ Heinz sah sie fragend an. Marie antwortete mit einer unbestimmten Geste und sie verabschiedeten sich. „Was ist denn los?“
Die Kollegen haben bei Helga Schwarz, alias Helga Sendlinger einen Abschiedsbrief gefunden.“ Heinz hob die Brauen. „Demzufolge hat sie all die Jahre, seit ihre Tochter Julia verschwunden war, nach dem Täter gesucht. Sie hatte von Anfang an Metzinger in Verdacht. Der ist übrigens Elsässer und wurde von der französischen Polizei verdächtigt, mit dem Verschwinden von Julia etwas zu tun zu haben zumal er, als er noch im Elsaß lebte, mehrfach wegen sexuellen Missbrauchs verdächtigt wurde. Man konnte ihm aber nie etwas nachweisen. Als die Polizei die Ermittlungen einstellte, hat Helga Sendlinger weitergemacht, um Metzinger zu überführen. Dabei hat sie offenbar nach und nach den Bezug zur Realität verloren. Als der zehnte Todestag ihrer Tochter näherrückte, hat sie beschlossen, Metzinger umzubringen. Vorher wollte sie ihn aber noch zwingen, ihr zu sagen, wo er Julias Leiche versteckt hat. Sie hat unter ihrem Mädchennamen bei der VHS als Putzfrau angefangen und alles sorgfältig vorbereitet.“ „Hm“, sagte Marie nachdenklich, „irgendwie tut sie mir leid. Wo hat man den Brief gefunden?“ „In ihrer Wohnung und dazu jede Menge Zeitungsausschnitte, Dokumente, Recherchematerial eben. Offenbar hat sie nur noch dafür gelebt, ihre Tochter zu finden“, schloss Heinz.
Eine Woche später fand Marie ein Fax der französischen Polizei vor: Man hatte Julias Leiche in der Nähe von Grasse gefunden. Eine anonyme Anruferin hatte den entscheidenden Hinweis geliefert. Helga Sendlinger nahm sich einen Tag, nachdem man ihr das Auffinden ihrer Tochter mitgeteilt hatte, das Leben.
Artikel vom 07.06.2010
Nutzen Sie die Möglichkeit, die gedruckte Ausgabe des "doppelpunkt:" zweimal jährlich zu beziehen und bereits veröffentliche Ausgaben nachzubestellen. mehr...