Wer bin ich?

Von Malte Emmerich

Du bist Ludwig Erhard! So ruft es mir von übergroßen Plakatwänden entgegen. Ich bin Ludwig Erhard? Dabei fühlte ich mich gerade noch recht lebendig und im Vergleich deutlich weniger beleibt. Auch komme ich über Schokoladezigaretten nicht hinaus.

Glücklicherweise fühlt sich ein Zeitgenosse von meiner gemurmelten Frage angesprochen. Nein, ich bin es, widerspricht er mir. Nein, ich, echot es von der anderen Seite. Was richtet diese Kampagne bloß an. Jeder will plötzlich jemand anders sein, oder soll jemand anders sein. So will es die Kampagne „Du bist Deutschland". Wenn wir nicht aufpassen, finden wir uns demnächst in der Klapse wieder und geben dort Napoleon oder den Kaiser Franz.

Ganz Deutschland scheint ein einziges Irrenhaus zu sein. Die alte Regierung führt noch die Geschäfte, in der möglichen neuen werden schon vor ihrer Bestellung mehr Minister ausgewechselt sein als in den ersten Jahren der Kanzlerschaft Gerhard Schröders. Es ist wie bei kleinen Kindern. Wenn sie das bekommen haben, was sie wollten, verlieren sie das Interesse. Glanz haben die Dinge immer nur in der Hand von anderen. Und Besitz verpflichtet ja ähnlich wie Eigentum zu Verantwortung.

So gesehen ist es doch verlockend, in die Haut eines anderen zu schlüpfen. Dann müssen wir das Chaos nicht selbst richten, jemand anders trägt Schuld daran, wenn es nicht vorangeht. Weil wir wissen, dass wir immer nur wir selbst sind, ist schon klar, dass wir scheitern. Oder so ungefähr jedenfalls. Damit scheinen wir dem Geheimnis der Kugelmachung des Würfels ein wenig näher gekommen zu sein: Wir sind Angela Merkel.

Artikel vom 10.11.2005

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