Von Konstantin Zurawski
Die Umverteilung von reich nach arm, wie sie 1968 in der letzten großen Studentenbewegung gefordert wurde, ist heute bei Studierenden kaum noch Thema. Studierende sind nicht mehr die Querdenker der Nation, sorgen nicht für kritische Auseinandersetzungen mit einem politischen und wirtschaftlichen System, das seit 1968 noch kapitalistischer geworden ist. Gründe für Widerstand gäbe es genug. Während globale Unternehmen ihre Gewinne steigern, Industrienationen im Luxus leben und Umweltprobleme nicht gelöst sind, leben immer mehr Menschen auf der Welt in Armut – und auch in Deutschland steigt die Anzahl der Personen stetig, die als arm bezeichnet werden können. Doch Proteste oder gar Revolutionsversuche wie 68 gibt es nicht.
„Kalkuliertes Engagement“
Michael Krzeminski, Professor für Journalistik an der Fachhochschule Bonn-Rhein-Sieg und Meinungsforscher sieht dafür den Hauptgrund nicht in politischem Desinteresse, sondern in einer Veränderung des Engagements. „Die Studierenden engagieren sich viel kalkulierter als damals“, so Krzeminski, „sie verfolgen keine utopischen Ideale mehr, sondern tun das, was auch was bringt.“ So machten Studierende vor ihrem Studium zum Beispiel lieber ein soziales Jahr, anstatt auf der Straße mehr Geld für Altenheime zu fordern. Oder sie versuchten als Parteimitglied direkt in der Politik etwas zu ändern. „Junge Menschen sind glaubwürdiger und pragmatischer als früher“, sagt Krzeminski. Der Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigkeit sei durchaus noch vorhanden, aber die Studierenden hätten erkannt, dass sie mit Kritik am System nichts verändern können.
Konkurrenz fördert Egoismus
Jörg Blasius, Professor für Soziologie an der Universität Bonn, sieht zusätzlich einen Rückgang des politischen Engagements. „Studierende sind karriereorientiert. Das bekommen sie vorgelebt“, sagt Blasius. Hochschüler müssten sich wegen der hohen Konkurrenz viel mehr um ihre eigene Karriere kümmern, als früher. Hochschulabsolventen hätten vor 30 Jahren außerdem sicher einen Job bekommen, der ihrer Ausbildung entsprach. „Heute denken die Studierenden in erster Linie an sich, Politik ist den meisten weniger wichtig“, so Blasius.
Artikel vom 22.12.2005
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