Von Gaby Kasper
Taktile Wahrnehmung ist vollkommen ausreichend, um sie in Sekundenbruchteilen zu erfassen: Erst liegt sie kühl auf der Hand, nimmt aber schnell Körpertemperatur an; ein dünner Draht, auf spezielle Art in drei Windungen gebogen, dort wo diese weit auseinander stehen, ist oben – oder unten, je nach Betrachtungsweise; mal kleiner, zuweilen auch riesengroß in ihrer Ausführung: die Büroklammer.
Geschmackssache
Sensorisch lässt sie sich noch genauer bestimmen. Nimmt man einen Metallgeschmack wahr, handelt es sich wahrscheinlich um ein älteres Modell – mit der Zeit rostend und noch nicht oberflächenveredelt. Eher geschmacksneutral verhalten sich die verzinkte und die ummantelte Ausführung. Der Unterschied zwischen diesen beiden lässt sich wiederum über die gespürte Anfangstemperatur ermitteln.
Begrifflichkeiten
So eindeutig ihre Form, so unklar der Begriff „Büroklammer“. Er ist genauso wie „Haar-Klammer“ und „Wäsche-Klammer“ aus zwei Substantiven zusammengesetzt. Die beiden Ersten geben uns genaue Auskunft, was sie zusammenhalten. Aber die „Büro-Klammer“? Ist es nicht ihre erste Aufgabe, Papierbögen zusammenzuhalten? Auch die englische Bezeichnung „paper-clip“ hilft uns nicht weiter, denn darunter versteht man meist dünne, einmal gefaltete Blechstreifen mit Werbeaufdruck. Wirklich eindeutig dürfte dann nur die Bezeichnung „Büroklammer“ sein – auch wenn das Büro nicht ihr alleiniges Einsatzgebiet ist.
Multifunktionswerkzeug
Gestehen wir uns doch ein: Die Büroklammer darf Papierbögen nur solange zusammenhalten, bis wir sie hemmungslos für etwas wichtigeres brauchen. Wer hat sie nicht schon mal zum Reinigen der Fingernägel gebraucht? Das verloren gegangene Häkchen am Reißverschluss durch sie ersetzt? Mit ihr zugesetzte Löcher frei gebohrt? Sie als Ersatz für Zahnstocher benutzt? Mit ihr seine Aggressionen abgebaut, sie aufgebogen, hin und her gebogen, bis sie zuletzt zerbrochen ist? Sie in Kindertagen als Gewichtsausgleich am Papierflieger befestigt? Die Liste ließe sich beliebig weiterführen.
Geschichte
Ihr Erfinder Johan Vaaler aus Kristiania, dem heutigen Oslo, hatte am 12. November 1899, als er das Patent beim Kaiserlichen Patentamt in Deutschland ( Norwegen besaß kein eigenes Patentrecht) anmeldete, sicherlich nicht vermutet, dass die Kinder des eben ausgeklungenen Jahrtausends dank der „Sendung mit der Maus“ in der Lage sein würden, mittels Zitrone und Metallbüroklammer Strom zu gewinnen.
Ob er noch von der symbolischen, politischen Bedeutung seiner Erfindung gewusst hat? Nach der Besetzung Norwegens durch die deutsche Wehrmacht im April 1940 war das Tragen der Büroklammer am Jackenaufschlag ein Ausdruck der Solidarität der Norweger untereinander und Zeichen der Loyalität gegenüber dem König und der Regierung, die das Land hatten verlassen müssen. Unter Androhung harter Strafen war das Tragen von Büroklammern dann verboten worden.
Selbst das aufkommende Computerzeitalter, seitdem Mitteilungen in Dateien abgelegt und um die ganze Welt verschickt werden, machte ihrem Dasein kein Ende. Sie lacht uns nun, als „assistent“ eines Schreibprogramms zum virtuellen Leben erweckt, freundlich zu und bietet uns ihre Hilfe an.
Selbstbewusst und in farbenfrohem Outfit, neuerdings auch in Pastelltönen, steht sie weiterhin in den Schreibwarengeschäften, um jederzeit den Dienst in Geschäftswelt und Privatbereich anzutreten. Nein, sie wird sicherlich noch lange nicht in Rente geschickt!
Artikel vom 31.01.2005
Nutzen Sie die Möglichkeit, die gedruckte Ausgabe des "doppelpunkt:" zweimal jährlich zu beziehen und bereits veröffentliche Ausgaben nachzubestellen. mehr...